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Beschluss 2020/090

Solidarität durch Inklusion - ohne Vorbehalt!

Beschluss des Parteivorstandes vom 6. Juni 2020

Der Parteivorstand unterstützt die beigefügte Stellungnahme zu intensivmedizinischen Entwicklungen "Solidarität und Inklusion - ohne Vorbehalt".

Solidarität durch Inklusion - ohne Vorbehalt!  – Stellungnahme zu intensivmedizinischen Entwicklungen

Wir nehmen die COVID-19-Pandemie und die damit in Zusammenhang stehende Befürchtung, dass die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht hätten reichen könnten, zum Anlass, generell zur Frage von Selektion im Rahmen intensivmedizinischer Entwicklungen Stellung zu beziehen. Nach unserer Auffassung wird an der aktuellen Debatte um die so genannte Triage deutlich, dass es sich hierbei keinesfalls nur um die Frage der Priorisierung bei der Behandlung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten handelt. Der Begriff der Triage stammt ursprünglich aus der Militärmedizin und war nicht negativ belegt, denn er stellte erst einmal nur fest, wer als Erster versorgt werden musste. Angesichts der COVID-19-Pandemie hat sich daraus aktuell eine Lebenswert-Diskussion im Allgemeinen entwickelt und viele Menschen – besonders alte, kranke und behinderte – sind zutiefst besorgt darüber, dass eine Einteilung in "lebenswertes" und "lebensunwertes" Leben wieder möglich werden könnte.

Wir teilen diese Befürchtung, denn wir begreifen die Ereignisse, die rund um die COVID-19-Pandemie zur Debatte um die Triage führten, als ein Ausdruck dessen, was sich gegenwärtig insgesamt in der Gesellschaft vollzieht: Tausende von Existenzen werden weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Menschen werden zunehmend entsolidarisiert. Unsere Meinungs- und Pressefreiheit sowie Bürger- und Menschenrechte werden eingeschränkt. Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Deutsche, Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge, Gläubige und Ungläubige werden gegeneinander ausgespielt und verstärkt nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit beurteilt. Der Schutz individueller Gesundheit steht über der Würde des Menschen. Gesundheit wird verabsolutiert und ihr wird ein höherer Wert als der der Menschenwürde gegeben.

Viele Menschen fragen sich, ob das, was zum Beispiel in Frankreich geschah, auch in Deutschland passieren könnte. In Frankreich, wo Patientinnen und Patienten über 80 zum Teil keine Intubation mehr erhielten, sondern stattdessen aktive Sterbebegleitung durch Opiate und Schlafmittel – eine Tötung durch Unterlassung. Am 25. März 2020 wurden gemeinsame Handlungsempfehlungen von sieben ärztlichen Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bezüglich der Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verabschiedet. Diese Empfehlungen sollen Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinerinnen und mediziner Orientierung bei der Beantwortung der Frage geben, welche Patienten lebensrettende Behandlungen erhalten sollen und welche nicht. Vorrangig sollen die Patientinnen und Patienten gerettet werden, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose haben.

Gegebenenfalls wären Patientinnen und Patienten betroffen, bei denen die Behandlung sehr geringe Erfolgsaussichten im Sinne des Überlebens der Intensivtherapie bzw. der Erreichung eines realistischen Therapieziels hätte. Sterbende sollen nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden, Menschen, die Intensivtherapie ablehnen, auch nicht mehr. Das kalendarische Alter und soziale Kriterien sollen - angeblich - zu keinen nachteiligen Entscheidungen führen. Doch das angeführte Kriterium der "Gebrechlichkeit", ein Instrument auch bei Auswahl-Entscheidungen in der Transplantationsmedizin, lässt befürchten, dass Alter, Behinderung und Krankheit auch hier bei der Beurteilung der Lebenschancen angewendet würden.

Nach unserer Überzeugung dürfen solche Kriterien sowie soziale oder ethnische Aspekt nicht dazu führen, das Leben eines Menschen als weniger wertvoll einzustufen. Im Notfall muss derjenige zuerst versorgt werden, der es am nötigsten braucht, so wie es die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. (DGKM) betont. In deren Orientierungshilfe heißt es: "Die DGKM vertritt … die Meinung, dass "…. eine prognostische Aussage zur Erfolgsaussicht der Behandlung in der Initialphase der Triagierung in diesem Zusammenhang nicht möglich ist.Daraus folgt, dass zunächst der Patient mit der höchsten Behandlungsdringlichkeit die maximale intensivmedizinische Therapie erhält”.

Wir unterstützen ebenfalls die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der zufolge es in Bezug auf die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften keine Abstufungen beim Zugang zur Intensivmedizin zulasten von Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen geben darf. Die Position des Deutschen Ethikrates allerdings, der zufolge der Staat keine qualitativen oder quantitativen Kriterien an das menschliche Leben anlegen dürfe, andererseits aber solche nichtrechtlichen Empfehlungen mit Blick auf Gleichbehandlungsansprüche hilfreich und sogar geboten seien, halten wir für äußerst bedenklich.

Die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und des Deutschen Ethikrates verstoßen klar gegen die in unserer Verfassung deklarierten Menschenrechte (Artikel 3) und gegen Artikel 10, 11 und 25 der UN-Behindertenrechtskonvention, vor allem gegen die Garantie der Menschenwürde und des Verbotes auf Diskriminierung. Die UN-BRK garantiert in Art. 10 das Recht auf Leben für alle Menschen mit Behinderungen und in Art. 11 UN-BRK heißt es: "Die Vertragsstaaten ergreifen (...) alle erforderlichen Maßnahmen, um in Gefahrensituationen, einschließlich bewaffneter Konflikte, humanitärer Notlagen und Naturkatastrophen, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten." In Art. 25 sagt die UN-BRK, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung haben.

Ressourcenknappheit in Deutschland

Bestehender Personalmangel, fehlende medizinisch-technische Geräte und Bevorratung wie Beatmungsgeräte oder Schutzmasken werfen die Frage auf, ob wir uns im Notfall darauf verlassen können, dass bei der Behandlung in den Krankenhäusern keine Selektion vorgenommen wird. Die Notwendigkeit einer Vorrangentscheidung ist abhängig von den vorhandenen medizinischen Ressourcen und demzufolge beeinflussbar. Wir müssen deshalb Priorisierungsüberlegungen vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren verschärften Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Deutschland betrachten. Teil der Daseinsvorsorge des Staates ist es, dafür zu sorgen, dass wir gar nicht erst vor solche Entscheidungen gestellt werden. Die Politik darf sich nicht aus ihrer Verantwortung zurückziehen. Es braucht - vor allem angesichts der deutschen Geschichte, die besondere Sensibilität verlangt -  eine breite gesellschaftliche Debatte aller Beteiligten, um Selektion, Euthanasie und faschistischen Entwicklungen konsequent entgegenzutreten.

Die Lösung wird nicht darin bestehen, die Zahl der Kliniken in Deutschland, so wie es die Bertelsmann-Stiftung noch im letzten Jahr forderte, von 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser zu reduzieren – mit der absurden Begründung, damit die Versorgungs­qua­lität und die Personalausstattung bei Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegepersonal zu verbessern. In regionalen Krankenhäusern wird täglich vielen tausend Menschen im Krankheitsfall Linderung verschafft, sie werden geheilt oder ihnen wird das Leben gerettet, indem schnell und bedarfsgerecht behandelt wird. Zudem ist aus epidemiologischer Sicht angezeigt, Patientinnen und Patienten mit Infektionen in regionalen Krankenhäusern zu behandeln, denn dort können sie besser kleinräumig isoliert werden. 

Doch statt aus der gegenwärtigen Situation zu lernen, werden auch jetzt - an der Krise vorbei - gerade im ländlichen Bereich, in dem die medizinische Versorgung durch die Schließung von Arztpraxen ohnehin gefährdet ist, weitere Krankenhäuser geschlossen. Viele bestehende Krankenhäuser konnten wegen Freihaltung der Betten für Corona-Patientinnen und -Ärzte wochenlang ihre normalen Behandlungen nicht durchführen, d. h. nichts mit den Krankenkassen abrechnen und sind jetzt quasi pleite. Doch regionale Krankenhäuser sind lebensnotwendiger Bestandteil von Netzwerken staatlicher Daseinsvorsorge. Sie brauchen die Unterstützung der Politik. Krankenhäuser sind nicht zuletzt auch Hauptarbeitgeber in den Kommunen.

Die Kosten für die Schließung einer großen Anzahl von Kliniken in Deutschland und den Ausbau von profitorientierten zentralisierten Superkliniken für elektive Behandlungen als neue Krankenhauslandschaft würden sich schätzungsweise auf 80 Mrd. Euro belaufen. Diese Umstrukturierung wird zunächst bis 2022 mit Hilfe eines Krankenhaus-Strukturfonds im Umfang von jährlich 500 Millionen Euro vom Bund befördert. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend nicht umgekehrt. Nein, man hat ein ganzes Land unter Quarantäne gestellt, damit intensivmedizinische Kapazitäten ausreichen.  

Insgesamt müssen wir angesichts der Corona-Pandemie einschätzen, dass für die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte jetzt die Bürgerinnen und Bürger bezahlen müssen. Sie sind ohnehin die größten Verlierer dieser Krise und noch weiß niemand, wie groß das Ausmaß tatsächlich sein wird. Die großen privat geführten Krankenhäuser und Pflegekonzerne haben dem Gesundheitssystem auf Kosten der Allgemeinheit hohe Gewinne entzogen. Gebraucht wird eine Politik weg von der Renditeorientierung, zurück zum Verbot der Gewinnerzielung im deutschen Gesundheitssystem. Die Krankenhaus- und Pflegekonzerne müssen sich an der Beseitigung des durch sie verursachten Dilemmas beteiligen, indem sie verpflichtet werden, auf ihre Rücklagen zurückzugreifen.

Forderungen an die Politik   

  • Gewährleistung eines gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Zugangs zu den gesundheitlichen Strukturen für alle Menschen. Alter, Behinderungen, Vorerkrankungen, soziale Aspekte, Nationalität, Religion und andere Kriterien dürfen nicht Grundlage von Priorisierungsentscheidungen sein; stattdessen brauchen wir eine menschenrechtliche Basierung von medizinisch-ethischen Empfehlungen;
  • Erhöhung der Kapazitäten in der Notfallmedizin, um möglichst keine Priorisierungs-Situationen entstehen zu lassen (in dem neuen Krankenhaus-Finanzierungsmodell von Beraterfirmen nach Leistungsgruppen kommen Pandemien/Infektionskrankheiten nicht einmal vor);
  • Umgehende Abschaffung des Systems derFallpauschalen als eine der Hauptursachen der Fehlentwicklungen wie u. a. Ausweitung lukrativer Diagnosen zulasten "defizitärer" Behandlungen in den Krankenhäusern;
  • Zurück zu einem solidarischen Gesundheits- und Sozialwesen und weg von einem auf Gewinnmaximierung geprägten Krankenhaus- und Pflegemarkt;
  • Erhalt und Ausbau der öffentlichen Krankenhausplanung im Interesse einer regionalen Krankenhausstruktur;
  • Rekommunalisierung der Krankenhäuser als Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge; es geht um eine bedarfsgerechte, wohnortnahe medizinische Versorgung auch und gerade in ländlichen Regionen;
  • Vorhalten von ausreichender Schutzausrüstung (sterile Handschuhe, Gesichtsmasken, Schutzanzüge und Desinfektionsmittel) durch das öffentliche Gesundheitswesen.

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